Das Foto zeigt ein historisches schwarz-weiß Foto von den Nürnberger Prozessen. Zu sehen ist der Nazi-Verbrecher Karl Brandt

Interview

80 Jahre Völkerrecht – Siegt die Macht des Stärkeren?

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Nach einem Weltkrieg mit entsetzlichen Folgen für Europa und den grauenhaften Verbrechen der Nationalsozialisten, begannen heute vor 80 Jahren die Nürnberger Prozesse. Kriegsverbrecher des Nationalsozialismus wie Hermann Göring, Rudolf Hess und Hitlers Architekt Albert Speer wurden als erste westliche Verbrecher international vor Gericht gestellt – die Geburtsstunde des Völkerrechts. Das war eine Zeitenwende für die Welt. Vorher war die Bestrafung des einzelnen Verbrechers innerhalb einer Armee international nicht geregelt. Vermeintliche Verbrecher waren der Willkür der Siegermächte ausgeliefert. Doch wo steht das Völkerrecht heute?

Christoph Safferling, Professor an der Universität Erlangen ordnet in seinem neuen Buch „Ohnmacht des Völkerrechts – Die Rückkehr des Kriegs und der Menschheitsverbrechen“ die völkerrechtliche Lage auf der Welt ein. Dabei hat er als Direktor der internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien versucht, den augenscheinlichen Pessimismus vieler Völkerrechtler und Menschenrechtsorganisationen zu bremsen. Trotz der prekären Situation des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) seien wir „Lichtjahre davon entfernt, wie wir 1943 dastanden“. Den IStGH bezeichnet er als das „Gericht der Menschheit“.

Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und der Antwort der israelische Armee in Gaza steht das Völkerrecht Kopf. Trotz der Erlassung mehrerer Haftbefehle gegen die handelnden Akteure Wladimir Putin und Benjamin Netanyahu konnte sich die Weltengemeinschaft nicht durchsetzen, diese festzunehmen. Vielmehr häufen sich Angriffe gegen den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und dessen Chefankläger Karim Khan. Im Februar 2025 erlies sogar der US-Präsident Donald Trump Sanktionen gegen Khan, sowie gegen die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese, um die weitere Verfolgung der vermeintlichen Kriegsverbrechen Israels zu verhindern.

80 Jahre Völkerrecht – Geschichte

Die Siegermächte USA, Großbritannien, die UdSSR und Frankreich beschlossen bereits während des zweiten Weltkriegs, die Hauptverantwortlichen vor Gericht zu stellen. Es kam zur Gründung des Internationalen Militärgerichtshofs („Nürnberger Charta“). Hieraus entstand dann 1998 der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag auf Grundlage des Rom-Statuts.

Bestraft wurden jetzt das Misshandeln oder die Ermordung von Kriegsgefangenen, die Deportation zur Zwangsarbeit oder die Verfolgung aus rassistischen, politischen oder religiösen Gründen. Zudem schufen die Alliierten einen neuen Straftatbestand: die “Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskriegs”.

Nürnberg wurde deshalb als Ort der Verhandlungen ausgewählt, da dort auf den Reichsparteitagen Hitlers Propaganda seinen Höhepunkt fand. Der Justizpalast lag günstig in der amerikanischen Besatzungszone. Darüber hinaus waren die Prozesse ein Teil des amerikanischen Programms zur “Reeducation”, um die deutsche Bevölkerung über die Verbrechen aufzuklären und die Manipulation durch Fakten aufzulösen.

Völkerrecht und Ethik: Auch das Recht auf Selbstverteidigung hat Grenzen

Das Völkerrecht ist ein archaisches Recht. Das heißt, es erscheint uns in heutigen Tagen des Friedens und Pazifismus als gewalttätig, ungerecht und brutal. Ein angegriffenes Land darf den Feind abwehren. Unter Bedingungen des Artikels 51 der UN-Charta sogar mit Gewalt zerschlagen, d.h. im Falle Israels, die Hamas beseitigen. Doch so einfach ist es nicht.

Jedes Land das angegriffen wird, darf den Angriff abwehren, aber der Gegenangriff ist völkerrechtlich klar geregelt. Ein besetzendes Land wie Israel, wie es vom Internationalen Strafgerichtshof bereits im Mauerurteil 2004 bezeichnet wird, muss die Bevölkerung, das Leben und das Eigentum schützen. Außerdem darf die Besatzung nicht genutzt werden, um demographische Veränderungen durchzuführen. Auch dies wird im Fall Gazas beanstandet.

Israel hat die Bombardierung Gazas, das Aushungern der Zivilbevölkerung (s. Aussage Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant) sowie die komplette Belagerung des Gazastreifens als für sich geeignetes Mittel gewählt. Es stehen deshalb Anschuldigungen wie Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen gegen die Kinderrechte im Raum.

Israel hätte also die Verantwortung gehabt, Zivilisten zu schützen. Die bloße Behauptung, in einem Gebäude befänden sich Terroristen, reicht nicht aus, um Luftangriffe, die einen großen „Kollateralschaden“ bergen, zu rechtfertigen. Auch die Aussagen der damaligen Außenministerin Annalena Baerbock zur Rechtfertigung der Angriffe auf zivile Infrastruktur sind sehr kritisch zu betrachten, da sie Pflichten des Völkerrechts verwässern.

Es könnte nämlich jeder einfach behaupten, dass sich Terroristen im Gebäude befinden und das könnte anschließend niemand beweisen. Wie die vollständige Zerstörung im Nachhinein, sowie das Sterben von mehr als 60.000 Zivilisten zeigt, hat Israels jede ethische Regel gebrochen, die ein Selbstverteidigungsrecht umfasst. Die vorgeworfene Willkür Israels wird jedoch schwer zu beweisen sein, wie Suzan Akram, Leiterin des Internationalen Praxisprogramms für Menschenrechte an der Juristischen Fakultät der Universität Boston, anmahnt. Israel hat mit seinen Angriffen 70 Prozent des Gazastreifens eingenommen und beschädigt. Dabei sind die meisten Zeugen, denen Gräueltaten angetan wurden – darunter 120 Journalisten –, getötet worden. Im September kam die UN-Untersuchungskommission für die besetzten Gebiete sogar zu dem Schluss, dass Israel in Gaza einen Völkermord begehe. 

Genozidvorwurf, Deutschland und die Unfähigkeit der Institutionen

In Deutschland hält man sich mit einer Prüfung des Völkerrechtsvorwurfs des Genozids bedeckt. Weder Juristen*innen noch Politiker*innen trauen sich, in der Öffentlichkeit über einen möglichen Völkermord Israels zu sprechen. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck sowie der frühere Bundeskanzler Olaf Scholz haben den Genozidvorwurf verneint. Zu schwer wiegt offenbar die eigene Vergangenheit und die Angst die hier lebenden jüdischen Bürger mit einem „Holocaust-Vergleich“ herabzuwürdigen.

Völkerrechtler in Deutschland haben ebenfalls ein Problem mit dem Tatbestand des Völkermords, da sie ihn sehr konservativ interpretieren und ihn auf der selben Stufe mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit sehen. Für die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese wiederum ist Völkermord kein Akt sondern ein Prozess. Das entscheidende Element um Völkermord festzustellen, sei die Absicht hinter Tötungs- und Schädigungshandlungen und der Schaffung von Lebensbedingungen, die zur Vernichtung einer Gruppe führen.

Schwierig ist dabei das Beweisen einer solchen Absicht. Doch für Albanese ist die Absicht kein Motiv. Motive können unterschiedlich sein. Ihrer Auffassung nach reicht es, wenn ein Land den Willen oder die Entschlossenheit entwickelt, Völkermord zu begehen. Beispielsweise um an der Macht zu bleiben oder Geiseln zu befreien. In dem Moment, wo die Entschlossenheit zur Zerstörung eines Volkes besteht, finde bereits ein Völkermord rechtlich statt, auch wenn dieser de facto noch nicht vollständig vollzogen wurde.

Die internationale Staatengemeinschaft hat deshalb ihrer Meinung nach die Pflicht, einen Völkermord bereits im Verdacht durch Bestrafung der Akteure zu verhindern. Ein Warten bis ein Völkermord vollzogen ist, ist ihrer Meinung nach absurd. Die jetzige Zerstörung Gazas sei nicht das Handeln einzelner Regierungsmitglieder, sondern das Versagen aller Institutionen in Israel, die das Handeln der kriegerischen Akteure hätten aufhalten müssen.

Autor: Dominik Fechner

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